Deutsches Reich, Sonnabend, 07. April 1900
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Inland Deutsches Reich Berlin - Mordprozeß ”Gönczi“ beendet Der   Berliner   Mordprozeß   ”Gönczi“   endete   mit   der   Verurteilung   des   ange - klagten   Schuhmachers   Gönczi   zum   zweifachen   Tode   und   zum   Verlust   der bürgerlichen Ehrenrechte; seine Frau wurde freigesprochen. Was war geschehen Am   23. August   1897   wurde   in   der   Berliner   Königgrätzer   Straße   35   ein   Dop - pelmord verübt. Das   Haus   in   der   Königgrätzer   Straße   35,   in   unmittelbarer   Nähe   des Anhalter   Bahnhofes,   dicht   am   Askanischen   Platz,   also   gewissermaßen   im verkehrsreichsten   und   vornehmsten Teile   Berlins,   gehörte   der   vermögenden (über   eine   Million   Reichsmark)   Witwe   Auguste   Schultze   und   deren   Stief - tochter Klara Schultze, die im zweiten Stock wohnten. Am   14.   August   1897,   vormittags   10   Uhr,   waren   die   beiden   Frauen zum    letzten    Male    von    Hausbewohnern    lebend    gesehen    worden.    Schon gegen   Mittag   des   genannten   Tages   klingelte   der   Kohlenmann   vergebens vor   der   Schultzeschen   Wohnung. Aber   auch   Zeitungsboten,   Briefträger   usw. fanden   trotz   allen   Klingelns   keinen   Einlaß.   Den   Hausbewohnern   fiel   dies wohl   auf. Allein   ein   in   der   Mühlenstraße   wohnender   Schuhmacher,   namens Gönczi,   der   einige   Wochen   vor   dem   14.   August   1897   im   Hause   Königgrät - zer   Straße   35   einen   zu   ebener   Erde   gelegenen   Laden   nebst   Keller   und Nebengelaß    gemietet    hatte,    teilte    den    Hausbewohnern    mit,    die    beiden Damen   seien   nach   Paris   gefahren,   hätten   ihm   die   Schlüssel   ihrer   Wohnung übergeben   und   ihn   auch   mit   der   Einziehung   der   Mieten   betraut.   Den   Haus - bewohnern   schien   das   sehr   wenig   glaubhaft.   Gleich   darauf   traf   jedoch   aus Hannover   ein   Telegramm   von   den   vermissten   Damen   an   einen   alten   Haus - bewohner   ein,   in   dem   die   Angaben   Gönczis   vollauf   bestätigt   wurden.   Ein Telegramm   gleichen   Inhalts   erhielt   auch   der   Verwalter   des   Schultzeschen Hauses in der Prenzlauer Allee. Es    fiel    daher    niemandem    mehr    auf,    daß    Gönczi    mit    Frau    in    der
Schultzeschen   Wohnung   sich   zu   schaffen   machte,   und   auch   nicht,   daß Gönczi   eine Anzahl   Fuhren   Erde   in   den   Keller   schaffen   ließ.   Endlich,   am   23. August,    nahmen    Hausbewohner    einen    eigentümlichen,    aus    dem    Keller kommenden   Geruch,   der   auf   Leichenverwesung   hindeutete,   wahr.   Als   der Keller   durch   einen   Schlosser   geöffnet   worden   war,   fand   man   in   dem   Vorder - zimmer   die   dort   hineingeworfene   Erde   aufgehäuft   vor.   Die   Kriminalpolizei ließ   die   Erde   abschaufeln,   und   man   stieß   alsbald   auf   zwei   Kisten,   in   denen die   Leichen   der   beiden   Frauen,   in   schwarzes   Wachstuch   eingehüllt,   vorge - funden   wurden.   Beiden   waren   die   Schädel   eingeschlagen,   der   alten   Frau auch   noch   der   Unterkiefer   zertrümmert,   beide   Leichen   waren   mit   Blut   besu - delt.   Blutspuren   deuteten   darauf   hin,   daß   der   Mord   in   dem   Gönczischen Laden   vollführt   worden   war;   vermutlich   hat   der   Mörder   zunächst   eine   der Frauen   in   den   Laden   gelockt,   dort   ermordet   und   den   Leichnam   in   den   Keller geschafft, und dasselbe alsdann bei der zweiten getan. Die   Beute   des   Raubmörders   war   nicht   annähernd   so   groß,   als   er gehofft   hatte,   da   Frau   Schultze   ihr   Barvermögen   im   Betrage   von   etwa   einer halben   Million   teils   bei   einem   Bankier,   teils   bei   der   Reichsbank   hinterlegt hatte. Außer   einigen   wenigen   Wertpapieren   im   Betrage   von   einigen   tausend Mark,   mehreren   Schmucksachen   und   einer   kleinen   Barsumme   ist   dem   Mör - der    nichts    in    die    Hände    gefallen.    Daß    Gönczi    die   Tat    vollbracht    haben müsse,   war   sofort   jedermann   klar,   die   Bemühungen   der   Polizei,   des   Ehe - paares    Gönczi    habhaft    zu    werden,    waren    jedoch    zunächst    vergeblich. Gönczi   und   Frau   waren   mit   ihrem   Hund   schon   einige Tage   vorher   aus   Berlin abgereist. Es   wurde   sogleich   vom   Berliner   Polizeipräsidium   im   Verein   mit   den Erben   der   Ermordeten,   eine   hohe   Belohnung   auf   Ergreifung   des   Gönczi - schen    Ehepaares    ausgesetzt.    An    die    Polizeibehörden    aller    zivilisierten Staaten,   an   sämtliche   deutschen   Konsulate   im   Auslande   und   an   zahllose Zeitungen   der   ganzen   Welt   wurden   wiederholt   Steckbriefe   mit   dem   Bild - nisse   des   Ehepaares   geschickt,   und   durch   besondere   Aufrufe   wurde   die Öffentlichkeit   zur   Mithilfe   bei   der   Entdeckung   und   Verhaftung   der   Flüchtigen aufgefordert.   Es   war   jedoch   keine   Spur   von   dem   verbrecherischen   Ehepaar zu   entdecken.   Endlich   nach   vollen   zwei   Jahren,   Anfang   August   1899,   kam ein   Mann   aus   Curtiba   (Brasilien)   in das   deutsche   Generalkonsulat   nach Rio   de   Janeiro. Als   er   den   dort   aus - gestellten   Steckbrief   auf   das   Gönc - zische    Ehepaar    sah,    bemerkte    er sofort:   er   habe   die   beiden   Leute   oft -
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